Warten. Das ist alles, was wir hier tun. Sitzend oder stehend. Nüchtern oder betrunken. Mal müde, mal wach. Mal frustriert, mal motiviert. Musik hörend, essend, tagträumend. Das belanglose Nichtstun erzwingt die Auseinandersetzung mit sich selbst und Gedanken, die in der Dauerberieselung keine Stimme finden – lieber schnell Kopfhörer rein. Die kalte, funktionale, Vandalismus resistente Umgebung erstickt jede Form von Individualität im Keim und man wird unfreiwillig Teil einer passiven Masse, die sich immer nur von hier irgendwohin auf den Weg begibt. Irgendwohin, wo es besser ist. Wo andere einen erwarten. Wo man mit den Gedanken bereits ist. Ich verlasse den Ort genauso anonym, wie er mir gegenüber auftritt. Andere hinterlassen ihm eine ausgetretene Kippe, ein Kaugummi oder sogar einen handwerklich dürftig ausgeführten Schriftzug oder Sticker – wenn es gut läuft. Andere treten aus Frust oder nicht kompensierter Aggression auch seine Scheibe ein – mit dem schmalen Rahmen des Fahrplans, sein letztes Bisschen Verletzlichkeit. Was passiert aber, wenn die Haltestelle zum Innehalten, Anhalten und Aushalten der Wartezeit anregt?
Verstörend konkurriert das vergilbte gerahmte Familienfoto mit den satten Farben des Fahrplans und Corporate Designs der Vestischen. Mit ernstem Gesichtsausdruck scheint die Familie die Aura des Ortes schon damals verspürt zu haben. Der samtig rote Perser-Teppich liegt auf feuchtem Stein, verdeckt Zigarettenstummel und will sich nicht ausmalen, wer und was hier schon alles gelegen hat. In der Ecke lädt ein geschwungener heller Polstersessel mit Holzfüßen zum Niederlassen ein. Und doch wirkt die kalte Metallgitterbank hier vertrauter. Vom sauberen, nostalgischen Sessel geht eine Autorität aus, die Respekt und Distanz verlangt. Mit Beistelltischchen, Schirmlampe und ein paar Geweihen an der Glasscheibe entsteht der Eindruck, ein altmodisches Wohnzimmer an einem der öffentlichsten und kurzweiligsten Verweilorte zu finden. Intimität und Privatsphäre sind brutal in die Öffentlichkeit und zur Schau, sogar zur Interaktion bloß gestellt. „Das beseelte Ding“ schießt mir durch den Kopf, indem ich ein bizarres Mitleid für die Dinge in ihrer neuen Umgebung entwickle. Wie muss sich ein Polstermöbel, das nur wohltemperierte Räume und gepflegte Böden kennt, hier unter freiem Himmel fühlen?